Edwin ohne Scherenhnde - Mein Lieblingsspieler (11): 11FREUNDE

Ich erinnere mich noch ziemlich genau an die Lehrvideos, die mir mein Vater Mitte der neunziger Jahre immer und immer wieder auf unserem alten Videorekorder im Dachgeschoss vorspielte. Als mein Trainer hatte mich mein alter Herr aufgrund drastischer Wachstumsschbe kurz nach dem Eintritt in die EJugend vom verhinderten Spielgestalter zum Torwart umfunktioniert. Unheimlich akribisch war

Ich erin­nere mich noch ziem­lich genau an die Lehr­vi­deos, die mir mein Vater Mitte der neun­ziger Jahre immer und immer wieder auf unserem alten Video­re­korder im Dach­ge­schoss vor­spielte. Als mein Trainer hatte mich mein alter Herr auf­grund dras­ti­scher Wachs­tums­schübe kurz nach dem Ein­tritt in die E‑Jugend vom ver­hin­derten Spiel­ge­stalter zum Tor­wart umfunk­tio­niert. Unheim­lich akri­bisch war mein Vater auf der Suche nach neuen Trai­nings­ma­te­ria­lien, wobei der DFB sich kurz vor der glor­rei­chen Rib­beck Ära mit inno­va­tiven Trai­nings­me­thoden eher bedeckt hielt. Gerade in puncto modernes Tor­wart­spiel waren die Mög­lich­keiten doch eher begrenzt und so gelangten wir auf Umwegen zu einem Video aus der Tor­wart­schule von Ajax Ams­terdam, in dem eine Stimme aus dem Off in gebro­chenem Deutsch die Vor­züge des zeit­ge­nös­si­schen Tor­wart­spiels anpries. Der Prot­ago­nist war ein groß gewach­sener junger Tor­wart, der eigent­lich zu schlaksig war, um als Held durch­zu­gehen und mir eben aus diesem Grund impo­nierte. Der Held in diesen Videos hieß Edwin van der Sar.

Pro­totyp des fuß­ball­spie­lenden Tor­warts
Der Auf­stieg des Hol­län­ders beginnt im Alter von 18 Jahren als Tor­wart des VV Noor­dwijk, wo er eher zufällig vom dama­ligen Ajax Jugend­ko­or­di­nator Louis van Gaal beob­achtet wird. Eigent­lich hat sich dieser wegen zwei Feld­spie­lern in den süd­hol­län­di­schen Badeort locken lassen, doch zusammen mit seinem Tor­wart­trainer Frans Hoek ent­scheidet sich der spä­tere Bayern-Coach, van der Sar unter Ver­trag zu nehmen. Von Liebe auf den ersten Blick kann dabei kaum die Rede sein, Hoek beschreibt den jungen Edwin reich­lich char­mant als kein her­aus­ra­gendes Talent, son­dern ein sehr langer, dünner Junge, der Bälle fangen kann.“ Dabei ver­fügt der 18-Jäh­rige über ein Merkmal, das ihn von anderen Tor­hü­tern dieser Zeit abhebt: er kann Fuß­ball­spielen. Für viele im Verein eine brot­lose Kunst, außer van Gaal und Hoek glaubt fast nie­mand daran, dass sich der nur durch­schnitt­lich begabte Tor­wart in der ersten Mann­schaft von Ajax durch­setzen wird. Der Tor­wart­trainer erkennt die Rele­vanz des mit­spie­lenden Tor­warts, gerade in einem System, in dem Ball­si­cher­heit oberste Prio­rität besitzt. Durch einen tech­nisch starken Schluss­mann, der die Bälle nicht nur blind hinten raus schlägt, gewinnt eine so spiel­starke Mann­schaft wie Ajax noch einmal an Qua­lität: sie gewinnt einen elften Feld­spieler.

In der Saison 1992/1993, im Jahr als die Rück­pass­regel ver­schärft wurde, wird der 1,97 Meter große Hüne Stamm­tor­wart der ersten Mann­schaft. Ein Schelm, wer an Zufall glaubt. Van der Sar bringt es auf eine sagen­hafte Kar­riere und gewinnt schon bei Ajax auf Ver­eins­ebene jeden rele­vanten Titel, dar­unter Meis­ter­schaft, Pokal und Cham­pions League. 1998 gehört er bei der WM in Frank­reich einer hol­län­di­schen Natio­nal­mann­schaft an, die mich durch Offen­siv­fuß­ball in bester Sturm und Drang Manier in den Bann zieht. Das Fun­da­ment der Mann­schaft ist van der Sar, der von hinten heraus see­len­ruhig seine Abwehr diri­giert und wie selbst­ver­ständ­lich immer wieder fuß­bal­le­ri­sche Akzente setzt. Die Krö­nung seiner Kar­riere bleibt ihm schon damals ver­wehrt, die Nie­der­lande unter­liegt im Halb­fi­nale Bra­si­lien. Auch im wei­teren Ver­lauf soll es nicht zu einem Titel mit der hol­län­di­schen Elftal rei­chen. 

Kein kar­rie­re­de­fi­nie­render Moment
Danach ver­lieren wir uns etwas aus den Augen, was in erster Linie meine Schuld ist. Die Pubertät nagt hart an mir und der erste Schritt Rich­tung Rebel­lion ist der Aus­tritt aus dem Fuß­ball­verein, dessen Struk­turen zu eng geworden sind. Ich begrabe für ein paar Jahre jeg­li­ches Inter­esse und widme mich statt Fünf­me­ter­räumen auf stau­bigen Asche­plätzen lieber bil­ligen Ziga­retten und schau­der­hafter Rock­musik. Von meinem Idol habe ich in dieser Zeit nicht allzu viel ver­passt, sein Wechsel zu Juventus Turin im Jahr 1999 ent­puppt sich nicht als die erwar­tete Ver­bes­se­rung. Der Hol­länder ist nach einigen Feh­lern bei den Fans unbe­liebt und bleibt nur zwei Jahre, auch sport­lich läuft es nicht son­der­lich erfolg­reich. Die alte Dame gewinnt wäh­rend van der Sars zwei­jäh­rigem Gast­spiel keinen Titel.

Etwas über­ra­schend kommt dann der Wechsel zum FC Fulham, der 2001 gerade in die Pre­miere League auf­ge­stiegen ist. Rück­bli­ckend könnte man den Hol­länder in puncto Welt­klasse abschreiben, denn der große Wurf ist ihm bei einem Welt­verein wie Juve nicht gelungen. Fulham klingt im Ver­gleich zuge­ge­be­ner­maßen etwas bieder. Den­noch beweist Edwin seine Klasse und weckt nach vier anspre­chenden Jahren im Craven Cot­tage das Inter­esse von Alex Fer­guson, der für Man­chester United einen neuen Tor­wart sucht. Der Schlaks aus dem Westen Lon­dons scheint eine solide Über­gangs­lö­sung zu sein, zumal Fer­guson ihm nicht zutraut länger als zwei, drei Jahre auf höchstem Niveau zu spielen. Van der Sar ist zu diesem Zeit­punkt bereits 35 Jahre alt.

Pubertät und Mit­telmaß

Ich ent­decke nach schweren Teen­ager­jahren zur glei­chen Zeit den Fuß­ball für mich wieder und bin begeis­tert von der tem­po­rei­chen Spiel­weise der eng­li­schen Pre­miere Leauge. Wir treffen uns also erneut, der Hol­länder und ich, auch wenn die Vor­zei­chen denkbar ungünstig stehen. Meine Lei­den­schaft gilt nicht etwa United, ich drücke von nun an dem FC Arsenal die Daumen. Obwohl van der Sar beim wenig geschätzten Rivalen spielt, wächst meine Bewun­de­rung für ihn. Fer­guson sollte sich getäuscht haben, denn der Nie­der­länder bleibt noch wei­tere fünf Jahre und erlebt in Man­chester die erfolg­reichste Zeit seiner Kar­riere. 2009 wird er als bester Ver­ein­stor­hüter Europas aus­ge­zeichnet und den­noch fehlt der eine, kar­rie­re­de­fi­nie­rende Moment. Diese Tat­sache passt zum unspek­ta­ku­lären, gesetzten Tor­wart­spiel des Hol­län­ders, letzt­lich hat seine Kon­stanz seine Lauf­bahn defi­niert.

Bereits zu einer Zeit, in der Oliver Kahn wie ein Wahn­sin­niger auf der Linie zap­pelte, geg­ne­ri­sche Stürmer biss und die eigene Abwehr­reihe per­ma­nent in Grund und Boden schrie, war Edwin van der Sar der kom­plette Gegen­ent­wurf, und dieser stand mir um einiges besser. Van der Sar hatte das Macho­hafte nicht nötig, er gewann seine Klasse durch seine sou­ve­räne Aus­strah­lung, die ihm auch nach Feh­lern davor bewahrte, in Panik zu ver­fallen. Seine viel zitierte Rolle als Pro­totyp des modernen Tor­warts“ mag stimmen, für mich ist sie nicht aus­schlag­ge­bend gewesen. Impo­santer war Edwins unbän­diger Wille, es trotz mit­tel­mä­ßigem Talent zu abso­luter Welt­spitze zu schaffen.

Wenn ich heute ins Dach­ge­schoss meiner Eltern komme, liegt ein satter Staub­film auf den alten Video­kas­setten meines Vaters. Auf der obersten mit dem mitt­ler­weile ver­al­teten Ajax Logo, wird auf der Rück­seite die moderne Tor­wart­schule von Ams­terdam beworben.
Ein Foto zeigt den blut­jungen Edwin, wie er mit rie­sigen Händen und wachen Augen im neon­far­benen Leib­chen durch seinen Straf­raum segelt.

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